Gorisvit Art-Camp

Nyzhne Selyshche, 23.5. - 3.6.2023

Gemeinsame Kreativität hilft ukrainischen Flüchtlingskindern

Vom 23. Mai bis zum 3 . Juni fand im Jugendgästehaus von NeSTU und Longo mai «Sargorigo» in Nyzhne Selyshche, Transkarpatien, das erste Mal ein Art-Camp für 18 Jungen und Mädchen im Alter von 12 – 15 Jahren statt.

Sargorigo wurde mit Hilfe des Netzwerks Schweiz - Transkarpatien/Ukraine im Jahr 2017 nach aufwendigen Renovationsarbeiten eröffnet und hat seit Kriegsbeginn zahlreichen Flüchtlingskindern und Familien Unterkunft geboten.

Das Camp ist eine Initiative von Base_UA, einer Gruppe von vorwiegend jungen Leuten, die im Gebiet Donetsk Menschen evakuieren und medizinisch betreuen, aber auch schon mehrere Art-Camps für Teenager in den Karpaten durchgeführt haben. Die 18 Jugendlichen wurden von insgesamt 9 Erwachsenen betreut, und nach den Worten aller Beteiligten ist diese grosse Anzahl einer der Gründe, warum die Camps so ausserordentlich positiv verlaufen.

Nastya Malkyna und Genia Koroletov (oben) sind Künstler und Kunstpädagogen aus Luhansk, sie leben seit Kriegsbeginn zu Gast bei Longo mai in Nyzhne Selyshche und haben die 10 Tage mit den Jugendlichen und den angereisten Betreuer.innen verbracht, sie waren Teil des Teams. Im Gespräch haben sie uns ihre Eindrücke mitgeteilt.

Jürgen Kräftner JK: es war das erste Mal, dass Ihr mit den Leuten von Base_UA gearbeitet habt. Welche Eindrücke hattet Ihr?

Nastya Malkyna NM: wir haben schon oft in verschiedenen Projekten mit Jugendlichen gearbeitet, aber dies war das erste Mal, dass wir an einem Jugendlager beteiligt waren. Wir hatten uns das als Schwerarbeit vorgestellt. Aber es war viel leichter, als wir dachten. Das Team hat wunderbar zusammengearbeitet und wir haben uns sehr wohl mit den anderen Erwachsenen gefühlt. Alle haben sich gegenseitig gut unterstützt, und die zehn Tage sind wie im Flug vergangen. Alle waren am Ende sehr glücklich, Kinder und Betreuer. Nun ist schon eine Woche vergangen und im Gruppenchat gibt es andauernd neue und sehr positive Nachrichten.

JK: Wie könnt Ihr die Kinder beschreiben, die teilgenommen haben? Woher kamen sie, und was waren ihre persönlichen Geschichten?

NM: Die Kinder stammten alle aus geflüchteten Familien, die meisten aus dem Osten und dem Süden der Ukraine. Zwei Kinder kamen aus Charkiw, sie haben die Stadt eine Zeit lang verlassen aber sind jetzt dorthin zurückgekehrt. Alle anderen leben derzeit nicht an ihrem früheren Wohnort. Sie kamen aus Zaporizhia, Donetsk, Luhansk, Cherson.

Genia Koroletov GK: Ein Mädchen stammte aus der Stadt Donetsk, nach 2014 lebte sie in Mariupol und nun musste sie wieder flüchten und lebt in der Oblast Rivne in der Westukraine. So hat sie schon viel Fluchterfahrung.

JK: Und vermutlich gab es auch Kinder mit besonders schweren Schicksalsschlägen?

NM: Ja, einige der Kinder haben während des Kriegs den Vater oder die Mutter verloren. Bei anderen ist der Vater an der Front. Wir haben diese persönlichen, traumatisierenden Geschichten während des Camps nicht gezielt angesprochen, aber die Kinder haben sich ja schriftlich vorgestellt, daher wussten wir davon. Einige von ihnen haben zu Beginn unter russischer Besetzung gelebt, und sind dann unter schwierigsten Bedingungen geflüchtet.

GK: Und praktisch Alle haben erzählt, dass sie grosse Mühe haben, am neuen Wohnort neue Freunde zu finden. Sie haben niemand, dem sie sich anvertrauen können. Das war wirklich das Problem von allen Kindern.

JK: wie geht das Team von Base_UA mit den Traumata um?

NM: Sie nennen das ein «Camp um Kräfte zu sammeln». Entgegen der Gepflogenheiten hatten wir diesmal keinen Psychologen in unserem Team und so wurden wir alle ein bisschen zu Psychologen. Aber es kam zu keinen besonders schwierigen Gesprächen oder angespannten Situationen. Die Kinder waren sehr offen und vertrauensvoll, sie haben sich bei uns ganz offensichtlich wohl und geschützt gefühlt.

Also haben sie von sich nur das erzählt, was sie spontan sagen wollten. Sie wurden nicht aufgefordert oder irgendwie unter Druck gesetzt, über ihre traumatisierenden Erfahrungen zu sprechen.

JK: Und wie war das Zusammenleben während dieser zehn Tage?

GK: Das war sehr interessant. Wir zum Beispiel dachten, wir würden ein bisschen mit den Kindern arbeiten und hätten dann noch viel freie Zeit. Aber schliesslich war es ein sehr intensiver Rhythmus und wir hatten Lust, permanent bei den Kindern und dem Betreuerteam zu bleiben. Manchmal fühlten wir uns ein bisschen wie zwischen den Betreuern und den Kindern, denn es gab zum Beispiel viele interessante Spiele, in den alle sich dazu äussern sollten, wie sie sich selber empfanden, über Vertrauen zu anderen Menschen, über Angst. Diese Spiele haben uns auch die Gelegenheit gegeben, uns Gedanken über uns selbst zu machen. Und aus alldem ist so eine Atmosphäre entstanden, ich weiss nicht, ob ich sagen würde eine grosse Familie, aber jedenfalls ganz anders, als man von einem Ferienlager erwarten würde.

JK: Ihr habt auch darüber erzählt, dass der Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Betreuern sehr stark waren.

GK: Die meisten Leute aus diesem Team haben selbst Flüchtlingserfahrung, oder auch andere, persönliche Erfahrungen mit dem Krieg. Die beiden jungen Frauen, die das Camp geleitet haben, stammen beide aus Donetsk. Maria, eine 28jährige Lehrerin, die die Camps von Anfang an mit ihrer Freundin Margeryta organisiert, hat selber Flüchtlingserfahrung und wie andere Mitglieder des Teams enge Verwandte in den besetzten Gebieten. Sasha stammt aus Kramatorsk und macht seit Jahren Kunstprojekte mit Jugendlichen, sie arbeitet auch weiterhin in ihrer Heimatstadt. Die Betreuerinnen sind sehr unterschiedliche Leute und nicht mit Allen hatten wir sofort einen guten Draht. Aber dann haben wir gemerkt, dass diese verschiedenen Charakter für die Kinder genau das richtige waren, sie haben sich unter den Betreuern den- oder diejenige ausgesucht, die ihnen vom Temperament her am ehesten zusagten.

JK: Und offenbar hat dem Team von Base_UA unser Gästehaus sehr gefallen, obwohl sie bisher an Orten waren, wo die Umgebung viel spektakulärer ist, wie zum Beispiel in Drahobrat bei den Gipfeln des Svydovets-Massivs. Was ist bei uns besser?

NM: Für die bisherigen Camps hatten sie eine Etage in einem Hotel in den Bergen. Es sind dort also auch noch andere Gäste, Touristen. Bei uns haben wir ein ganzes Haus und das umliegende Grundstück ganz für uns alleine, es ist wie eine kleine Insel, auf der wir diese zehn Tage verbringen. Gegen Ende des Camps haben wir dann gemerkt, dass wir hier in Zukunft auch das Programm etwas lockerer gestalten können und den Kindern mehr freie Zeit geben. Das geht in diesen Hotels nicht, da die Kinder sonst isoliert in ihren Zimmern sind.

JK: Mit welchen Eindrücken und in welcher Stimmung sind die Kinder wieder nach Hause gefahren?

NM: Die Stimmung war ungeheuer positiv und dies merkt man bis heute im Gruppenchat. Die Kinder überlegen sich gemeinsame Aktivitäten, obwohl sie an ganz verschiedenen Orten leben, und sie schmieden Pläne, wie sie sich wieder treffen können. Natürlich gibt es zwischen ihnen Liebe, Freundschaft, alles...

GK: Es gab zwei interessante Beispiele. Ein Junge, er war die ganze Zeit ziemlich schweigsam. Seine Mama hat erzählt, dass er bei seiner Rückkehr sehr viel erzählt hat, über all die Kinder und Erwachsenen, die er kennengelernt hat, über das gute Essen und die Köchin Olya. Und einer der Jüngsten, Mark, war hyperaktiv. Mit ihm war es nicht immer einfach, da er keine strukturierten Abläufe akzeptieren wollte. Seine Mama hat berichtet, dass er nach seiner Rückkehr sehr positiv über das Camp erzählt hat. Und ein Junge hatte zu Beginn gesagt, dass er von seinen Eltern gegen seinen Willen in das Camp geschickt worden war. Er sagte, «wie immer haben meine Eltern gegen meinen Willen entschieden». Er stammt übrigens aus Lissitschansk, einer Stadt in der Oblast Luhansk, die im vergangenen Sommer völlig zerbombt wurde. Zu Beginn war er ziemlich verschlossen, aber mit der Zeit begann er, uns viele Fragen zu stellen, über den Krieg, und über seine Erfahrungen. Zum Schluss habe ich ihn gefragt, ob er es bereut, gekommen zu sein. Im Gegenteil, sagte er, er würde gerne wieder kommen. Es sei das erste Mal, dass seine Eltern ihn zu etwas gezwungen hätten, und er zu Ende froh darüber gewesen sei.

NM: Ja, und es war eindrücklich, wie selbst diese Jungen, die eher etwas reserviert waren, sich am Ende umarmt und sogar zum Abschied geweint haben. Sie haben sich sehr geöffnet und Anteil genommen.

JK: diese Kinder gehen ja jetzt nicht in die Schule.

NM: Nein, sie sind im Online-Unterricht. Sie sitzen den ganzen Tag vor dem Computer oder am Smartphone. Hier im Camp wurde ihnen die Nutzung des Smartphones auf drei Stunden eingeschränkt. Und viele nutzten nicht einmal die Zeit, in der sie Zugang zu ihren Gadgets hatten, denn sie hatten viel mehr Spass mit den anderen Kindern.

GK: Manche Eltern setzen ihre Kinder unter Druck, gute Schulergebnisse zu liefern, und das schränkt ihr soziales Leben noch weiter ein. Hier im Camp hatten sie das erste Mal die Gelegenheit für einen echten Austausch, und das hat sich sehr positiv auf die Stimmung ausgewirkt.