Rundbrief 11.06.2025

Link zum Rundbruef

Liebe Freundinnen und Freunde von NeSTU
Dieser Rundbrief ist sehr umfangreich und wir empfehlen ausdrücklich alle Texte als Sommerlektüre:

  • Die Verwunderung von Sajid Ismahilov über die selbstmörderischen Angriffe russischer Soldaten. Ismahilov ist Tatare aus Donetsk, bis 2022 war er Grossmufti der Ukraine, zu Kriegsbeginn hat er sich freiwillig zur Armee gemeldet.

  • Der ukrainische Politikwissenschafters Anton Shekhovtsov erklärt, warum westliche Thinktanks in ihren Zukunftsszenarien für die Ukraine grundsätzlich falsch liegen

  • Ivo Mijnssen berichtet in Neuen Zürcher Zeitung über die Situation in der Romasiedlung von Mukatschewo und die Initiative unserer Freundin Rada Kalandija


Die russischen Angriffe auf die ukrainische Bevölkerung haben sich in den vergangenen Wochen noch deutlich verschärft. Am schlimmsten ist es in Cherson, wo Zivilisten systematisch von Drohnen gejagt werden. Auch in Charkiw und Sumi wird das Leben immer gefährlicher. Dennoch beobachten wir quer durch das ganze Land einen regelrechten kulturellen Boom. Theatervorstellungen in Kyiv und sogar Charkiw sind häufig ausverkauft, es werden zahlreiche neue Produktionen gezeigt. Das Opernballet von Charkiw zeigt seine Vorstellungen in einem bombensicheren Keller; die grosse Buchmesse im "Kunst-Arsenal" von Kyiv ging mit grossem Publikumsandrang soeben zu Ende. Im Krieg hat die eigene Kultur für die ukrainische Bevölkerung ganz offenbar an Stellenwert gewonnen, das merken wir sogar in unserer etwas hinterwäldlerischen Provinz.

Veranstaltungen und Lesetipps
Die Hudaki Village Band musste Anfang Mai eine Tournee absagen, und bittet um Entschuldigung, falls jemand vor verschlossener Tür stand. Der wehrpflichtige Cymbalist durfte nicht ausreisen, nachdem im Frühjahr die Ausreisebestimmungen für Journalisten und Kulturschaffende verschärft wurden. Nun hat die Band vorübergehend Ersatz gefunden. Die nächsten Konzerte:
Mi 18. Juni, 19.30 Kulturcafé Cheesmeyer Sissach link
Fr 20. Juni, 19.30 Sentitreff Luzern link
Sa 21. Juni 21.30 Adieu-Fest TUV Viererfeld, Bern link
Tourneeflyer (pdf)

Mit Anna Ochrimtschuk, Ethnomusikologin und Stimmbildnerin aus Kyiv, haben schon einige singfreudige Menschen in der Schweiz Bekanntschaft gemacht. Anna ist für viele Vokalensembles in der Ukraine eine unersetzliche Hilfe, so auch für Hudaki. Im August organisieren unsere Freunde in Siebenbürgen, Rumänien, einen einwöchigen Gesangskurs mit Anna, den wir sehr empfehlen. Hier ist der Flyer.

Redaktion Rundbrief: Jürgen Kräftner, Nyzhne Selyshche


Kammerchor Cantus, die Tournee im Oktober, von Krisztina Szakács

Wir haben uns sehr über die grosse Resonanz zur Ausschreibung vom Workshop in Melchtal gefreut. Die Plätze wurden sehr schnell vergeben und so ist der Workshop bereits ausgebucht.
Ebenfalls freut es mich, hier den Vorflyer der Konzerttournee „Hoffnung - Надія“ zeigen zu dürfen, damit Sie sich die Termine und Orte der geplanten Konzerte schon einmal vormerken können. Ein detaillierterer Flyer mit weiteren Informationen zum Programm folgt nach den Sommerferien. Auf Anfrage stellen wir Ihnen dann gerne auch gedruckte Exemplare zur Verfügung.
Im Namen von Cantus wünsche ich Ihnen einen schönen Sommer und freue mich auf das Wiedersehen. Kontakt:  cantus.ukraine@gmx.ch


Die Hudaki Village Band
merkte anlässlich eines Konzerts in Kyiv, dass nächtlicher Bombenterror der Lebensfreude keinen Abbruch tut, es tanzten mehr als 1000 vorwiegend sehr junge Leute von der ersten Note an.



Buchempfehlung
Über Victoria Amelina haben wir hier schon berichtet. Nun erscheint, posthum, eine Sammlung ihrer Texte, die sie während den ersten Monaten des Kriegs verfasst hat.
Aus dem Klappentext:  Die Veröffentlichung dieses Buches ist eine Verbeugung vor einer großartigen Frau, die nicht mehr lebt. Victoria Amelina, ukrainische Schriftstellerin, Dichterin, Mutter, Feministin und Menschenrechtsaktivistin, wurde im Sommer 2023 durch eine russische Rakete getötet. Sie wurde 37 Jahre alt. In den letzten Monaten ihres Lebens arbeitete sie an diesem Buch. Darin begleitet sie Journalistinnen, Verteidigerinnen der Menschenrechte, Anwältinnen, die russische Kriegsverbrechen festhalten, während der Krieg gegen die Ukraine andauert. Und sie beschreibt ihre eigene Wandlung von der Autorin und Mutter zur Aktivistin. Das Buch erscheint posthum in den USA, England, Frankreich, Italien, Schweden, Holland, Korea und Deutschland.


Art-Camps
Anfang Mai fand in unserem Jugendgästehaus SargoRigo ein weiteres Art-Camp "Furt" für Jungendliche zwischen 13 und 15 Jahren aus den ukrainischen Kriegsgebieten statt. Das Camp wurde vollständig aus NeSTU-Spendengeldern finanziert. Die Betreuung und Organisation hat ein neues Team aus sechs Frauen und einem Mann übernommen. Deren Begeisterung und Engagement hat sich offenbar auf die Jugendlichen übertragen, wie aus dem Bericht (pdf) herauszulesen ist. Ein paar Fotos geben einen Eindruck.
 

NeSTU arbeitet mit mehreren kompetenten Teams in der Ukraine zusammen, die kriegsbetroffenen Jugendlichen in Art-Camps helfen, nach mehr als drei Jahren Krieg Mut zu tanken und (selbst)bewusst mit ihren Traumata umzugehen. Auch nach den Camps bleiben sie mit den jungen Menschen in Kontakt, manche erhalten psychotherapeutische Unterstützung. Die Berichte und Resultate sind überzeugend. Daher wollen wir diese Arbeit weiter unterstützen und sind dafür dringend auf Spenden angewiesen. 
Herzlichen Dank! 
Spendenkonto am Ende dieses Rundbriefs.


Die Romasiedlung von Mukatschewo und die Initiative von Rada Kalandija
Wir haben hier schon mehrmals von der Initiative Romen berichtet, die es in kleinen, sorgfältig gewählten Schritten schafft, die erschütternden Lebensrealitäten der Roma von Mukatschewo nachhaltig zu verbessern. Nicht zuletzt durch unsere Vermittlung ist vor kurzem in der Neuen Zürcher Zeitung eine umfassende und sehr empfehlenswerte Reportage veröffentlicht worden. Hier ist sie als PDF zu finden.
Der Text stammt von Ivo Mijnssen, die Fotos von Dominic Nahr.
Wir sind in ständigem Kontakt mit Rada Kalandija und suchen nach langfristiger Unterstützung für ihre Arbeit.


Über Heuschrecken und das jüngste Gericht
Von Sajid Ismahilov, Grossmufti der Ukraine, 19. Mai 2025

Diese Gesellschaft ist wie eine Heuschreckenplage. Und der Sinn ihrer Existenz ist, ohne Rücksicht auf Verluste vorzurücken und neue Gebiete zu erobern.
Jeden Tag stürmen sie in kleinen Gruppen von drei bis fünf Leuten auf Wovtschansk. Sie klettern über die Leichen derer, die ein paar Stunden vor ihnen versucht haben, dieselbe Position zu stürmen. Das hat keinen Sinn, keinen Verstand, keine Aussicht auf Erfolg, nur uns mit Leichen zu überhäufen. Das unterscheidet sich von den Fleischangriffen zu Zeiten von Marschall Schukow nur dadurch, dass sie jetzt in kleinen Gruppen angreifen und das Ziel nicht darin besteht, Kilometer zu erobern, sondern eine einzige unserer Stellungen von nur wenigen Quadratmetern zu besetzen. Jeden Tag, methodisch – Angriff um Angriff, verloren – zurückgeworfen, wenn noch jemand da ist, der zurückgeworfen werden kann. Aber mit einer wahnsinnigen Hartnäckigkeit. Der Einzelne verliert sich selbst und wird Teil eines Schwarms, in dem der Tod einiger weniger Insekten überhaupt keine Rolle spielt. Ich kann mir nicht anders erklären, warum sie weitermachen, obwohl sie wissen, dass wir sie jetzt töten werden.
Meine philosophische Ausbildung hindert mich daran, diese Alltäglichkeit mit den Augen eines Mathematikers zu betrachten und einfach festzustellen: minus eins, minus fünf, minus vierzig. Meine philosophische und theologische Ausbildung zwingt mein Gehirn zu versuchen, zu verstehen, warum dieser konditionierte Homo erectus („aufrecht gehender Mensch”, denn ich kann sie nicht einfach so Homo Sapiens nennen, weil ich in dieser Aktion keine Intelligenz sehe) über die Leichen von Individuen aus seinem Schwarm klettert, um sicher zu sterben, über die Trümmer einer Stadt, die wie eine Marslandschaft aussieht. Wofür? Was ist deine Motivation? Was erhoffst du dir davon?
Als ich mit Gefangenen sprach, sagten alle, dass sie Geld vom Putin-Regime haben wollten, um ihre finanzielle Lage zu verbessern. Keiner hat irgendwelche ideologischen Motive, irgendeinen Glauben an höhere Werte oder ein hohes Ziel genannt. Nur Kredite, Schulden, Hypotheken, Armut, Kinder, die großgezogen werden müssen... Bist du gekommen, um unsere Kinder zu töten, damit du deine großziehen kannst? Schweigen. Gesenkte Augen. Aber genau das ist es. Sie werden uns und unsere Kinder ganz ruhig töten, unsere Häuser besetzen, in unseren Betten schlafen und sogar unsere Kleidung tragen. Sie sehen darin nichts Schändliches und Unzulässiges. Ihre Machthaber haben es ihnen gegeben und erlaubt, also ist es okay. Und sie werden ohne jedes Ekelgefühl dein Kleid anziehen und von deinem Teller essen, weil der Zar und die Kirche ihnen diese Taten gesegnet haben.
Sie kommen, um unsere Ressourcen zu nehmen und zu verschlingen, um unser Land zu besiedeln. Und während die Oberen versuchen zu erklären, warum sie uns angegriffen haben und uns töten, wollen die Unteren einfach nur reich werden, indem sie uns töten und ausrauben.
Der Prophet Mohammed (Friede sei mit ihm!) hat eine interessante Beschreibung der menschlichen Dummheit und Gier gegeben: „Der Tag des Jüngsten Gerichts wird nicht kommen, bevor der Euphrat sich teilt und an seiner Stelle ein goldener Berg erscheint. Die Menschen werden um dieses Gold kämpfen, und von hundert werden neunundneunzig sterben. Aber jeder von ihnen wird sich sagen: Vielleicht überlebe ich!“
Ich schaue sie an und denke, vielleicht rennt jeder von ihnen in den Sturm und denkt, dass gerade er überleben und reich werden wird? Aber dann werden sie von unseren Jungs erledigt, und der Statist sagt: Noch mal minus fünfhundert.

Sajid Ismahilov (*1978 in Donetsk) hat sich nach dem 24. Februar 2022 der Territorialverteidigung der Ukraine angeschlossen und kämpft derzeit im Norden von Charkiw gegen die russischen Angreifer. Diesen Text hat er auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht. Illustriert war er vom unten abgebildeten Foto aus Wovtschansk.
Übersetzung aus dem Ukrainischen und Titel von Jürgen Kräftner
 


Warum die Ukraine weiterkämpft
Weil Widerstand eine Chance zum Überleben bietet – Kapitulation hingegen keine
Von Anton Shekhovtsov, 26. Mai 2025


Das Center for Geopolitics, das kürzlich von JPMorganChase, einem amerikanischen multinationalen Finanzkonzern, ins Leben gerufen wurde, hat seinen ersten Bericht veröffentlicht, der sich mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine und der „Zukunft Europas“ befasst. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj „wahrscheinlich irgendwann in diesem Jahr gezwungen sein wird, eine Verhandlungslösung mit Russland zu akzeptieren, die die Kämpfe einfriert, aber kein umfassendes Friedensabkommen beinhaltet. […] 
Putin wird versuchen, einen Deal auszuhandeln, der seinem übergeordneten Ziel, Kiew letztendlich zu kontrollieren, zuträglich ist. 2025 wurde immer als das Jahr der Verhandlungen angesehen, und nun ist das Endspiel da.
“ 

Der Bericht listet dann vier mögliche Ergebnisse des „Endspiels“ auf und bezieht sich dabei auf vier verschiedene Länder: 
Best-Case-Szenario: „Südkorea“-Szenario, Wahrscheinlichkeit: 15 % 
Die Ukraine wird wahrscheinlich weder die NATO-Mitgliedschaft noch die vollständige Wiederherstellung ihres Territoriums erreichen, aber die Sicherung einer europäischen Militärpräsenz in der Ukraine, unterstützt durch die USA in den Bereichen Sicherheit und Geheimdienst, könnte die 80 Prozent des Landes, die noch unter der Kontrolle Kiews stehen, stabilisieren und stärken. 

Immer noch okay: „Israel“-Szenario, Wahrscheinlichkeit: 20 % 
Eine robuste langfristige Unterstützung ohne ausländische Truppen könnte der Ukraine helfen, sich zu stärken und Abschreckungsmaßnahmen aufzubauen, aber die Gefahr eines Krieges würde bestehen bleiben. Putin würde weiterhin wirtschaftliche Anreize und verbesserte Beziehungen zu den USA benötigen, um abgeschreckt zu werden. 

Nicht so gut: „Georgien”-Szenario, Wahrscheinlichkeit: 50 % 
Ohne ausländische Truppen oder starke militärische Unterstützung würde die Ukraine mit Instabilität, einer behinderten Erholung, schwindender internationaler Unterstützung und einem ins Stocken geratenen Weg zur Integration in den Westen konfrontiert sein und riskieren, langsam wieder in den Einflussbereich Russlands zurückzufallen. 

Schlimmster Fall: „Weißrussland“-Szenario, Wahrscheinlichkeit: 15 % 
Wenn die USA die Ukraine im Stich lassen und Europa keinen Ausgleich schafft, wird Russland auf die totale Kapitulation der Ukraine drängen, den Sieg erringen, den Westen spalten und die internationale Ordnung der Nachkriegszeit umstürzen. 

Leider scheint das Center for Geopolitics von JPMorgan die Bedeutung des Krieges sowohl für Russland als auch für die Ukraine nicht zu begreifen, was dazu führt, dass das „Georgien“-Szenario als wahrscheinlichstes „Endspiel“ dargestellt wird. Warum Russland den Krieg führt und nicht freiwillig aufhören wird, obwohl – wie der Bericht sagt – „Putins Verluste bei weitem nicht tragbar sind”: Putin sieht die Existenz des ukrainischen Nationalstaates als Instrument des ewigen Krieges des Westens gegen Russland. In diesem Sinne ist der aktuelle Krieg nur eine Episode dieses ewigen Konflikts. Er sieht die Zerstörung der Ukraine sowohl als Ziel an sich als auch als Möglichkeit, sich am Westen zu rächen, ohne ihn direkt zu konfrontieren. Putins Ansichten über den Westen und die Ukraine wurden während des Kalten Krieges geprägt – lange vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der Entstehung der Ukraine als unabhängiger Staat im Jahr 1991 oder der Erweiterung der NATO. Der Krieg gegen die Ukraine ist ein wichtiger Teil von Putins Identität, und sein Wille, weiterzukämpfen, kann nur durch mehr Feuerkraft oder seinen eigenen Tod gebrochen werden. 

Warum die Ukraine sich wehrt und weiterkämpfen wird: Die Ukraine hat keine andere Wahl. Man denke nur an eine bestimmte Praxis der russischen Truppen: Es ist mittlerweile zur gängigen Praxis der russischen Streitkräfte geworden, ukrainische Soldaten und Offiziere, die zur Kapitulation gezwungen werden, hinzurichten. Die Tötung von Kriegsgefangenen ist nicht nur ein schwerer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, sondern auch eine höchst irrationale Handlung. Aus rationaler Sicht könnte Russland ukrainische Kriegsgefangene verhören, um Informationen über das Schlachtfeld zu erhalten, sie zu Zwangsarbeit einsetzen, sie in Gefangenenaustauschen verwenden oder sogar versuchen, sie zu indoktrinieren, damit sie die Seiten wechseln oder in zukünftigen Operationen als Spione fungieren. Nicht zuletzt erhöht die systematische Hinrichtung von Kriegsgefangenen das Risiko gegenseitiger Verstöße und bringt gefangene russische Soldaten in größere Gefahr. Wir können die Vorstellung, dass die Hinrichtung von sich ergebenden ukrainischen Soldaten durch „Kampfeswut“ motiviert ist, getrost verwerfen. Von den ukrainischen Militärbehörden dokumentierte Fälle zeigen ein einheitliches Bild von bewussten Entscheidungen russischer Offiziere, die ihren Untergebenen befehlen, ukrainische Kriegsgefangene hinzurichten – oder sie, wie die Russen sagen, „null zu machen“ (обнулить). 

Was zeigt die systematische Hinrichtung ukrainischer Kriegsgefangener? Sie deutet auf eine bewusste Entmenschlichung der Ukrainer hin, eine Strategie, die darauf abzielt, Angst zu schüren, die ukrainische Gesellschaft und die Streitkräfte zu demoralisieren und zu signalisieren, dass dies ein Krieg ohne moralische oder rechtliche Grenzen ist. Diese Handlungen deuten darauf hin, dass Russlands Ziele in der Ukraine über traditionelle imperialistische oder Besatzungsziele hinausgehen: Sie zeigen die Absicht, die Ukraine nicht nur zu dominieren, sondern als politische und nationale Einheit zu vernichten. Der Verweis von JPMorgan auf Georgien in seinem „wahrscheinlichsten“ Szenario ist völlig falsch. Putin hält die Existenz des georgischen Staates nicht für problematisch – aus seiner Sicht ist die bloße Existenz Georgiens im Gegensatz zur Ukraine nicht Teil des imaginären ewigen Krieges des Westens gegen Russland. Die Lage ist in Georgien und der Ukraine völlig unterschiedlich. Für Putin würde die Akzeptanz der Ukraine nach georgischem Vorbild – also das Überleben der Ukraine – bedeuten, seine Grundüberzeugungen zu verraten, was er nicht freiwillig tun wird, egal wie hoch die menschlichen Kosten für Russland sind. Wie Wladimir Medinski, Putins Vertreter bei den jüngsten sogenannten „Russland-Ukraine-Gesprächen“ in Istanbul, erklärte: Russland ist bereit, „so lange wie nötig“ Krieg gegen die Ukraine zu führen – „Russland ist bereit, für immer zu kämpfen“. Das ist keine Übertreibung. Das erklärt, warum sich der Völkermordkrieg Russlands gegen die Ukraine dramatisch von dem Krieg Russlands gegen Georgien im Jahr 2008 oder sogar von der sowjetischen Besetzung der mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg unterscheidet. Die Sowjets haben nie versucht, die ungarische Nation in Ungarn, die Deutschen in Ostdeutschland oder die Tschechen in der Tschechoslowakei zu vernichten. Bei der sowjetischen Kontrolle über Mittel- und Osteuropa ging es um politische und ideologische Vorherrschaft, nicht um Auslöschung. Was die Ukraine erwartet, ist keine traditionelle Besetzung oder ideologische Unterwerfung, sondern die Auslöschung. Einfach gesagt: Die Ukraine hat die Wahl, sich zu wehren und dabei ihr Leben zu riskieren oder sich zu ergeben und getötet zu werden. Wenn sie sich wehrt, hat sie eine Chance; wenn sie sich ergibt, hat sie keine – daher ist eine Kapitulation keine Option. Russland versucht nicht, in den von ihm besetzten und annektierten Regionen der Ukraine eine „russlandfreundliche Ukraine” aufzubauen. Es versucht, dort „Russland“ selbst aufzubauen – durch systematische und offene Entukrainisierung, die sich in Massenvertreibungen, ethnischen Säuberungen und brutaler Russifizierung äußert. 

Grob gesagt gibt es daher zwei mögliche Ergebnisse des russisch-ukrainischen Krieges: (1) die Zerstörung (und mögliche Teilung) des ukrainischen Nationalstaates oder (2) das Überleben eines fest im Westen verankerten ukrainischen Reststaates. Damit das zweite Szenario eintreten kann, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Die Ukraine muss stark bewaffnet sein, durch eiserne Garantien mehrerer NATO-Mitgliedstaaten gesichert und vollständig in die EU integriert sein. Alle anderen Zwischenszenarien sind lediglich Übergangsphasen, die ohne diese Bedingungen letztendlich zum ersten Ergebnis führen.

Der ukrainische, aus Sevastopol stammende Politikwissenschafter Anton Shekhovtsov lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Wien. Seine hauptsächlichen Forschungsfelder sind die extreme Rechte in Osteuropa und der Krieg zwischen Russland und der Ukraine. https://substack.com/@shekhovtsov

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Jürgen Kräftner